Variable Vergütung und Kürzung bei Krankheit – rechtlicher Rahmen und aktueller Hintergrund
Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 2. Juli 2025 (Az. 10 AZR 193/24) verdeutlicht erneut die Bedeutung des Grundsatzes „Ohne Arbeit kein Lohn" für variable Vergütungssysteme. Im zugrunde liegenden Fall ging es um die Kürzung einer leistungsabhängigen Vergütung eines Agenturbetreuers eines Versicherungsunternehmens. Dieser war für einen erheblichen Zeitraum arbeitsunfähig erkrankt, wobei ein Teil dieser Zeit nicht mehr von der Entgeltfortzahlung nach dem Entgeltfortzahlungsgesetz erfasst war. Der Arbeitnehmer verlangte dennoch die volle variable Vergütung.
Die Arbeitgeberin hatte ein Vergütungssystem etabliert, das auf einer Gesamtbetriebsvereinbarung beruhte und aus einem fixen Gehaltsanteil und einer variablen Erfolgsvergütung bestand. Letztere richtete sich nach der Erreichung von jährlich festgelegten Teamzielen. Die variable Vergütung betrug 40 Prozent des Zieleinkommens und hing maßgeblich von der Zielerfüllung der betreuten Vertriebspartner ab. Streitig war, ob diese Vergütung trotz längerer Fehlzeiten ohne Entgeltfortzahlungsanspruch ungekürzt zu zahlen ist. Das Bundesarbeitsgericht bejahte die Möglichkeit der Kürzung und bestätigte die Entscheidung der Vorinstanzen.
Rechtliche Einordnung des Grundsatzes „Ohne Arbeit kein Lohn" und seine Anwendung im Fall
Der Grundsatz „Ohne Arbeit kein Lohn" ist eine tragende Säule des deutschen Arbeitsrechts und ergibt sich aus § 275 und § 326 des Bürgerlichen Gesetzbuchs in Verbindung mit § 611a, der die wechselseitige Leistungspflicht von Arbeitgeber und Arbeitnehmer definiert. Unter normalen Umständen erhält ein Arbeitnehmer Vergütung nur für tatsächlich geleistete Arbeit. Ein gesetzlicher Ausnahmetatbestand besteht im Rahmen der Entgeltfortzahlung nach § 3 Entgeltfortzahlungsgesetz, die bei Krankheit bis zu sechs Wochen greift. Ist dieser Zeitraum überschritten, entfällt der Vergütungsanspruch, es sei denn, vertragliche oder tarifliche Regelungen bestimmen etwas anderes.
Das Gericht stellte klar, dass die variable Vergütung integraler Bestandteil der arbeitsleistungsbezogenen Gegenleistung ist. Sie ist somit kein reiner Bonus im Sinne einer Anerkennungszahlung für vergangene Betriebstreue, sondern Teil des Synallagmas – des Gegenseitigkeitsverhältnisses von Leistung und Gegenleistung im Arbeitsvertrag. Damit besteht die Pflicht zur Zahlung der variablen Vergütung nur, wenn tatsächlich Arbeitsleistung erbracht wird oder ein Entgeltfortzahlungsanspruch besteht. Die Argumentation des Klägers, die Zielerreichung sei teambezogen und unabhängig von seiner individuellen Präsenz zu bewerten, überzeugte das Gericht nicht. Auch in Teamstrukturen ist die individuelle Arbeitsleistung Bestandteil des Gesamtleistungserfolgs, sodass eine anteilige Kürzung bei längerer Krankheit sachgerecht und rechtmäßig ist.
Die Auslegung der zugrundeliegenden Gesamtbetriebsvereinbarung ergab ebenfalls keine Anhaltspunkte, dass die Betriebsparteien von den gesetzlichen Regelungen abweichen wollten. Entscheidend sei, dass die variable Vergütung – trotz hoher Fixumsicherung und monatlicher Vorschüsse – ausschließlich an Leistungserbringung gekoppelt sei und keinen Charakter einer sozialen Zuwendung habe. Damit greift nach Ablauf des Entgeltfortzahlungszeitraums die gesetzliche Kürzungswirkung automatisch, ohne dass es einer ausdrücklichen Kürzungsregel bedarf. Mit dieser Begründung folgt das Bundesarbeitsgericht seiner bisherigen Linie und führt sie konsequent fort.
Folgen für Unternehmen, Steuerberatung und Finanzinstitutionen in der Praxis
Für Arbeitgeber, insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen, bietet die Entscheidung wichtige Orientierung bei der Gestaltung variabler Vergütungssysteme. Sie stellt klar, dass leistungsabhängige Vergütungen grundsätzlich an die tatsächliche Arbeitsleistung anknüpfen und bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit ohne Entgeltfortzahlungsanspruch zeitanteilig entfallen dürfen. Dies betrifft vor allem Branchen mit ausgeprägten Zielvereinbarungsmodellen, etwa den Vertrieb in Versicherungsunternehmen, Pflegeeinrichtungen mit erfolgsabhängigen Bonusmodellen oder Onlinehändler mit Leistungsprämien.
Unternehmen sollten ihre Betriebsvereinbarungen, Zielvereinbarungssysteme und Bonusregelungen daraufhin prüfen, ob sie ungewollt eine Fortzahlungspflicht für Zeiten ohne Arbeitsleistung auslösen. Empfehlenswert ist eine präzise Formulierung, die unmissverständlich auf die Arbeitsleistungsbezogenheit der variablen Bestandteile abstellt. Für die steuerliche Behandlung sind solche Klarstellungen ebenfalls bedeutsam, da nur tatsächlich erdiente variable Vergütungen lohnsteuerlich als Arbeitslohn zu erfassen sind. Steuerberater und Lohnbuchhaltungen profitieren von einer eindeutigen Trennung zwischen leistungsabhängigen und sonstigen Entgeltbestandteilen, um die korrekte steuerliche Einordnung und Abführung zu gewährleisten.
Auch Finanzinstitutionen, die Personalvergütungssysteme refinanzieren oder bewerten, sollten die Entscheidung berücksichtigen. Sie stärkt die Rechtssicherheit, indem sie die Trennlinie zwischen leistungsbezogener und betrieblich-sozialer Vergütung erneut zieht. Für Unternehmen mit digitalisierten Abrechnungssystemen bietet die Klarheit des Urteils zudem die Chance, Prozesse zur Vergütungsberechnung automatisiert rechtssicher zu gestalten. Moderne HR-Software kann etwa Krankheitszeiträume automatisch mit Entgeltfortzahlungsgrenzen abgleichen und variable Anteile entsprechend anpassen.
Schlussfolgerungen für eine rechtssichere und effiziente Vergütungspraxis
Die Entscheidung zeigt deutlich, dass variable Vergütungskomponenten nur dann entstehen, wenn die entsprechende Arbeitsleistung erbracht wird. Unternehmen, die teambezogene Bonusmodelle einsetzen, dürfen daher fehlende Arbeitszeit infolge längerer Krankheiten ohne Entgeltfortzahlungsanspruch berücksichtigen und den Bonus anteilig kürzen. Dies gilt selbst dann, wenn die Betriebsvereinbarung keine ausdrückliche Kürzungsregel enthält. Eine klare Dokumentation der Grundlagen im Vergütungssystem schützt vor arbeitsgerichtlichen Auseinandersetzungen.
Für kleine und mittelständische Betriebe ist diese Rechtsprechung eine Einladung, bestehende Modelle zu überprüfen und rechtssicher zu gestalten. Eine moderne, digital unterstützte Lohn- und Gehaltsabrechnung kann hierbei entscheidend zur Transparenz und Prozessoptimierung beitragen. Unsere Kanzlei begleitet Unternehmen unterschiedlichster Branchen bei der Digitalisierung ihrer Buchhaltungsprozesse und der Optimierung variabler Vergütungssysteme – mit nachweislicher Effizienzsteigerung und Kostensenkung im laufenden Betrieb.
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