Die Diskussion um Urlaubsansprüche von Arbeitnehmern während länger andauernder Erkrankungen ist seit Jahren ein sensibles Thema. Viele Unternehmen, insbesondere im Mittelstand, im Gesundheitswesen oder im Bereich Pflege, sehen sich mit schwierigen Fragen konfrontiert, wenn Beschäftigte über lange Zeiträume hinweg arbeitsunfähig sind. Das Bundesarbeitsgericht hat am 15. Juli 2025 mit dem Aktenzeichen 9 AZR 198/24 eine wegweisende Entscheidung gefällt, die für Arbeitgeber und Arbeitnehmer gleichermaßen von großer Bedeutung ist. Im Zentrum der Entscheidung stand die Frage, ob während einer Langzeiterkrankung Urlaubsansprüche unbegrenzt fortbestehen können, wenn arbeitsvertragliche Regelungen dies vorsehen, und wie sich diese Regelungen zum gesetzlichen Mindesturlaub nach dem Bundesurlaubsgesetz verhalten.
Urlaubsabgeltung bei Langzeiterkrankung im rechtlichen Kontext
Nach dem Bundesurlaubsgesetz – kurz BUrlG – haben Arbeitnehmer einen gesetzlichen Mindesturlaub von vier Wochen. Im Regelfall verfällt dieser, wenn er nicht bis zum Ende des Übertragungszeitraums genommen wird. In Fällen von Langzeiterkrankungen hatte die Rechtsprechung bisher einen Übertragungszeitraum von 15 Monaten nach Ablauf des Urlaubsjahres vorgesehen. Diese 15-Monatsfrist war im Sinne des Arbeitsschutzes gedacht, gleichzeitig sollte sie aber Arbeitgeber vor erheblichen finanziellen Rückstellungen bewahren. Das Bundesarbeitsgericht musste nun entscheiden, ob hiervon abweichende vertragliche Regelungen, die in Allgemeinen Geschäftsbedingungen enthalten sind, wirksam sein können.
Im verhandelten Fall war eine Arbeitnehmerin aus einer Pflegeeinrichtung über acht Jahre hinweg ununterbrochen erkrankt und konnte ihren Urlaub in dieser Zeit nicht nehmen. Im Arbeitsvertrag war geregelt, dass der gesetzliche Mindesturlaub im Falle einer langfristigen Krankheit nicht verfällt, sondern über den Übertragungszeitraum hinaus bestehen bleibt. Bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses standen daher 144 Urlaubstage im Raum, die abzugelten waren. Das Bundesarbeitsgericht stellte klar, dass diese vertragliche Regelung wirksam ist, da sie sich ausdrücklich und abweichend vom sonst geltenden Recht auf den gesetzlichen Mindesturlaub bezieht. Dies führte dazu, dass der vertragliche Verfall ausgeschlossen war und der Arbeitgeber verpflichtet wurde, über 16.908 Euro brutto an Urlaubsabgeltung zu zahlen.
Relevante Aspekte der Entscheidung für die Unternehmenspraxis
Die Entscheidung wirft ein Schlaglicht auf die enorme Bedeutung vertraglicher Regelungen, insbesondere vorformulierte Arbeitsverträge. Allgemeine Geschäftsbedingungen im Arbeitsrecht werden nach den Grundsätzen des Bürgerlichen Gesetzbuchs ausgelegt. Nach Auffassung des Gerichts war der Vertragstext hier eindeutig: Die Arbeitgeberseite wollte sich durch eine Klausel binden, wonach im Falle langandauernder Krankheit ein Verfall des Mindesturlaubs ausgeschlossen ist. Der zentrale Gedanke bestand darin, dass Arbeitnehmer die Zusage beim Wort nehmen dürfen. Damit wurde die gesetzliche 15-Monatsfrist bewusst durchbrochen.
Für Unternehmen, die mit Langzeiterkrankungen konfrontiert sind, zum Beispiel Pflegeeinrichtungen oder produzierende Betriebe mit körperlich belastenden Tätigkeiten, bedeutet diese Rechtsprechung eine erhebliche finanzielle Dimension. Denn solange die Arbeitsverhältnisse bestehen bleiben, baut sich ein Urlaubsanspruch über mehrere Jahre hinweg auf, der bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses auszuzahlen ist. Die bisherige Annahme, dass der gesetzliche Mindesturlaub automatisch nach 15 Monaten verfällt, gilt nicht mehr uneingeschränkt, wenn Individualregelungen in den Verträgen etwas Abweichendes bestimmen.
Konkrete Folgen für kleine und mittelständische Betriebe
Kleine Unternehmen und Mittelständler kennen die Problematik, dass krankheitsbedingte Ausfälle personell und finanziell erhebliche Belastungen mit sich bringen. Kommt zusätzlich die Verpflichtung hinzu, nicht verfallene Urlaubsansprüche auszuzahlen, entstehen unvorhersehbare Kosten. Pflegeeinrichtungen, die ohnehin einen hohen Krankenstand verzeichnen, könnte diese Rechtsprechung besonders stark treffen. Onlinehändler und produzierende Betriebe, die vielfach standardisierte Arbeitsverträge verwenden, sollten ihre Vertragswerke nach dieser Entscheidung prüfen, um mögliche Risiken zu identifizieren.
Für Steuerberater und Finanzinstitutionen bedeutet das Urteil, dass Urlaubsrückstellungen künftig genauer kalkuliert werden müssen. Wenn vertraglich ausgeschlossen ist, dass Urlaubsansprüche bei Langzeiterkrankung verfallen, stellt dies ein dauerhaftes Risiko dar, das in die Bilanz einfließen muss. Unternehmen sollten im Rahmen ihres Risikomanagements genau abwägen, ob sie mit solchen vertraglichen Zusagen bewusst über die gesetzlichen Mindeststandards hinausgehen wollen. Vertragsgestaltung wird damit zu einem wichtigen Steuerungsinstrument für die betriebliche Planung.
Klare Handlungsstrategien für Arbeitgeber und Arbeitnehmer
Eine wesentliche Lehre für die Praxis liegt in der konsequenten Vertragsprüfung. Arbeitgeber sind gut beraten, bestehende Arbeitsvertragsmuster auf Formulierungen zum Urlaubsverfall zu überprüfen und sich bewusst mit der Frage auseinanderzusetzen, ob der Verfall des Mindesturlaubs auch bei Langzeiterkrankungen geregelt ist. Steuerberatende Kanzleien und Rechtsanwälte im Arbeitsrecht sollten ihre Mandanten auf diese Risiken aufmerksam machen und rechtssichere Klauseln entwickeln, die den rechtlichen Rahmenbedingungen standhalten. Arbeitnehmer hingegen können durch dieses Urteil in bestimmten Konstellationen langfristig profitieren und gestärkt in Verhandlungen über Abgeltung eintreten. Für Arbeitnehmervertretungen und Betriebsräte bietet die Entscheidung eine Gelegenheit, die Bedeutung von Transparenz im Arbeitsvertrag hervorzuheben und kollektive Regelungen stärker mit Blick auf ihre Folgen zu bewerten.
Fazit: Neue Maßstäbe für Vertragsgestaltung und Prozessoptimierung
Die Entscheidung macht deutlich, dass Unternehmen die langfristigen finanziellen Konsequenzen ihrer Arbeitsvertragsgestaltung stärker im Blick behalten müssen. Gerade die Abgrenzung zwischen gesetzlichen und vertraglichen Ansprüchen kann erhebliche finanzielle Risiken bergen. Verträge, die günstiger formuliert wurden, können auch nach vielen Jahren für deutliche Mehrbelastungen sorgen. Arbeitgeber sind daher gut beraten, bestehende Vertragsmuster einer erneuten Überprüfung zu unterziehen. Unsere Kanzlei unterstützt kleine und mittelständische Unternehmen dabei, Arbeits- und Steuerprozesse rechtssicher zu gestalten, die Digitalisierung der Buchhaltung voranzutreiben und Kosteneffizienz durch Prozessoptimierung nachhaltig zu verbessern. Mit unserer Erfahrung begleiten wir Mandanten verschiedener Branchen von der Pflegeeinrichtung über Onlinehändler bis zum klassischen Mittelstand, um rechtliche Risiken zu vermeiden und wirtschaftliche Chancen konsequent zu nutzen.
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