Die Frage, welche Tarifverträge auf ein Arbeitsverhältnis Anwendung finden, ist nicht nur für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von erheblicher Bedeutung, sondern auch für Banken, Finanzdienstleister und mittelständische Unternehmen, die tarifliche Bezugnahmen in Arbeitsverträgen vereinbaren. Eine aktuelle Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (Az. 4 AZR 267/24, Urteil vom 21. Mai 2025) befasst sich genau mit dieser Konstellation und verdeutlicht, wie komplex die Auslegung dynamischer Bezugnahmeklauseln sein kann, insbesondere dann, wenn sich ursprünglich identische Tarifwerke inhaltlich auseinanderentwickeln.
Bezugnahme auf Tarifwerke und rechtlicher Hintergrund
Im vorliegenden Fall ging es um eine Arbeitnehmerin, deren Arbeitsvertrag aus dem Jahr 1995 auf die Tarifverträge des privaten Bankgewerbes sowie der öffentlichen Banken in ihrer jeweiligen Fassung verwies. Diese sogenannte „dynamische Bezugnahmeklausel“ bedeutet, dass nicht der Stand eines Tarifvertrages bei Vertragsschluss gilt, sondern stets die neueste Fassung Anwendung findet. Dynamische Klauseln sichern Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern also den Fortschritt der jeweiligen Tarifentwicklung. Im Laufe der Jahre wurde das Arbeitsverhältnis auf die Landesbank Baden-Württemberg übertragen und später im Zuge eines Betriebsteilübergangs auf eine nicht tarifgebundene Gesellschaft überführt.
Entscheidend wurde die Rechtsfrage ab 2022, als die bis dahin jahrzehntelang inhaltlich nahezu identischen Tarifwerke für das private Bankgewerbe und für die öffentlichen Banken erstmals auseinanderfielen. Während die Tarifverträge öffentlicher Banken bestimmte Gehaltserhöhungen jeweils ab Juli vorsahen, setzten jene im privaten Bankgewerbe erst im August ein. Die Arbeitgeberin orientierte sich an den späteren Erhöhungen und verweigerte die Juli-Anhebungen. Die Klägerin argumentierte, ihre vertragliche Bezugnahme umfasse nur die öffentlichen Banken und damit auch die früheren Gehaltserhöhungen. Das Bundesarbeitsgericht entschied, dass eine planwidrige Vertragslücke durch ergänzende Auslegung zu schließen sei und bestätigte die Anwendbarkeit der Tarifverträge der öffentlichen Banken.
Auslegung von Bezugnahmeklauseln und ergänzende Vertragsauslegung
Das Gericht bekräftigte zunächst, dass eine Bezugnahmeklausel klar und bestimmbar sein muss. In der Phase, in der beide Tarifwerke identisch waren, bestand keine Unklarheit. Nachdem sich diese aber ab 2022 inhaltlich unterschieden, fehlte eine Kollisionsregel. An dieser Stelle griff die ergänzende Vertragsauslegung. Unter ergänzender Vertragsauslegung versteht man eine juristische Methode, bei der das Gericht prüft, wie redliche Vertragspartner die offene Frage geregelt hätten, wenn sie die Lücke zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses erkannt hätten.
Aus Sicht des Gerichts sprach alles dafür, das Tarifwerk der öffentlichen Banken als vorrangig anzusehen. Maßgeblich war, dass die Klägerin über weite Teile ihrer Laufbahn im Geltungsbereich eines öffentlichen Instituts beschäftigt war und dass der Vertrag in einem Umfeld abgeschlossen wurde, in dem die öffentliche Banktarifbindung tatsächlich relevant war. Dieses Vorgehen verhindert, dass Arbeitnehmerrechte ausgehöhlt werden und wahrt den ursprünglichen Sinn der Vereinbarung – nämlich eine Vergütung nach den branchenüblichen und zum Institut passenden Tarifstandards.
Es ist zudem hervorzuheben, dass die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts keine allgemeine pauschale Regel schafft, sondern stets der Einzelfall und die Umstände des Vertragsschlusses im Vordergrund stehen. Für Arbeitgeber bedeutet dies, dass unklare Formulierungen im Arbeitsvertrag kostspielige Rechtsstreitigkeiten nach sich ziehen können. Umgekehrt verdeutlicht die Entscheidung die Schutzwirkung dynamischer Bezugnahmeklauseln für Arbeitnehmer, die andernfalls durch eine abweichende Tarifpraxis schlechter gestellt würden.
Relevanz für kleine Unternehmen, Banken und andere Arbeitgeber
Die Entscheidung hat nicht nur Folgen für Banken und Kreditinstitute, sondern ebenso für kleine und mittelständische Unternehmen, die in Arbeitsverträgen Bezugnahmen auf Tarifwerke verankern. Besonders in Branchen mit unterschiedlichen Verbandstarifen kann es passieren, dass ursprünglich identische Tarifwerke im Zeitverlauf getrennte Wege gehen. Arbeitgeber in Pflegeeinrichtungen oder Onlinehändler, die auf vergleichbare Bezugnahmen zurückgreifen, können mit ähnlichen Auslegungsproblemen konfrontiert werden, wenn mehrere Tarifwerke dynamisch genannt werden.
Für Banken und andere stark regulierte Branchen ist die Entscheidung ein Hinweis, dass bei Vertragsschlüssen künftig eindeutiger formuliert werden sollte. Eine klare Festlegung, welches Tarifwerk im Zweifel Vorrang hat, kann spätere gerichtliche Auseinandersetzungen vermeiden. Die Praxis zeigt, dass gerade im Mittelstand arbeitsvertragliche Klauseln oft aus Mustern übernommen werden, ohne ihre Langzeitwirkung zu hinterfragen. Dieser Fall illustriert, wie sich diese Praxis rächen kann.
Unternehmen sollten daher prüfen, welche Tarifwerke tatsächlich in Frage kommen und welche Form der Bezugname rechtssicher und praxistauglich ist. Gerade für Betriebe, die im Zuge von Betriebsteilübergängen, Outsourcing oder Fusionen tätig sind, ist eine präzise Vertragsgestaltung entscheidend, damit es nicht zu teuren Nachforderungen kommt. Ein Beispiel sind IT-Outsourcing-Projekte in Banken oder auch Pflegeeinrichtungen, die ihre Verwaltungseinheiten auslagern und deren Arbeitnehmer von Tarifschutzregelungen betroffen sein können. Fehlende oder ungenaue Kollisionsregelungen führen dabei fast zwangsläufig zu gerichtlichen Klärungen.
Fazit und Handlungsempfehlung für die Unternehmenspraxis
Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts macht deutlich, wie wichtig präzise formulierte Bezugnahmeklauseln in Arbeitsverträgen sind. Dynamische Verweisungen erhöhen zwar die Flexibilität, bergen jedoch erhebliche Risiken, wenn sie mehrere Tarifwerke gleichzeitig erfassen. Für die Unternehmenspraxis gilt deshalb: Wer Tarifwerke im Vertrag nennt, muss sicherstellen, dass die gewählte Regelung klar erkennbar macht, welche Tarifentwicklungen künftig maßgeblich sind. Andernfalls drohen Nachzahlungen und Zinsansprüche, wie sie die Beklagte im entschiedenen Verfahren leisten musste.
In der Praxis bedeutet dies für kleine und mittelständische Unternehmen im Bankensektor, in Pflegeeinrichtungen oder auch im Onlinehandel, dass Vertragsklauseln sorgfältig geprüft und bei Bedarf rechtlich überarbeitet werden sollten. Wer hier vorausschauend handelt, spart langfristig Kosten und vermeidet Rechtsunsicherheit. Unsere Kanzlei unterstützt Unternehmen aller Größenordnungen dabei, ihre Vertrags- und Buchhaltungsprozesse zu optimieren, insbesondere im Hinblick auf Digitalisierung und effiziente Abläufe. Damit sichern wir nicht nur rechtliche Klarheit, sondern leisten einen wichtigen Beitrag zur Kostensenkung im Mittelstand.
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