Einordnung der Entscheidung zur europäischen Mindestlohnrichtlinie
Der Gerichtshof der Europäischen Union hat mit Urteil vom 11. November 2025 in der Rechtssache C-19/23 die Gültigkeit der Richtlinie über angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union überwiegend bestätigt, zwei zentrale Bestimmungen jedoch für nichtig erklärt. Damit stellt der Gerichtshof klar, dass die Europäische Union zwar einen rechtlichen Rahmen zur Förderung angemessener Löhne setzen darf, ihre Zuständigkeit jedoch dort endet, wo nationale Gesetzgeber unmittelbar über Lohngestaltung und tarifliche Autonomie entscheiden. Besonders für kleine und mittelständische Unternehmen in Deutschland, die in Arbeitsmarkt- und Lohnfragen unmittelbar betroffen sind, besitzt das Urteil erhebliche praktische Bedeutung.
Die Entscheidung basiert auf der rechtlichen Abgrenzung der Kompetenzen nach dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union. Nach Artikel 153 Absatz 5 besitzt die Union keine Gesetzgebungskompetenz in Bezug auf Arbeitsentgelte und Koalitionsrechte. Gleichwohl dürfen unionsrechtliche Maßnahmen unterstützend und ergänzend wirken, sofern sie nicht unmittelbar in die Festsetzung von Löhnen eingreifen. Genau an dieser Stelle zieht der Gerichtshof eine für die Praxis entscheidende Linie.
Die wesentlichen rechtlichen Erwägungen des Gerichtshofs
Im Kern prüfte der Gerichtshof, ob die Richtlinie (EU) 2022/2041 über angemessene Mindestlöhne gegen die Kompetenzverteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten verstößt. Er kam zu dem Ergebnis, dass dies nur für zwei Regelungen zutrifft. Zum einen betraf dies die Bestimmung, nach der Mitgliedstaaten mit gesetzlichen Mindestlöhnen bestimmte Kriterien zwingend zu berücksichtigen haben. Diese Kriterien, etwa zur Kaufkraft des Mindestlohns, zu Lebenshaltungskosten oder zur Produktivitätsentwicklung, greifen nach Auffassung des Gerichts unmittelbar in nationale Entscheidungsprozesse zur Lohnfestsetzung ein. Zum anderen wurde die Vorschrift für unzulässig erklärt, die eine Senkung gesetzlicher Mindestlöhne bei automatischer Indexierung verhindert. Beide Eingriffe bewertete das Gericht als rechtswidrige Harmonisierung wirtschaftlicher Kernparameter, die ausschließlich den Mitgliedstaaten vorbehalten sind. Im Übrigen bestätigte der Gerichtshof die Rechtmäßigkeit der Richtlinie und wies die Klage Dänemarks weitgehend ab.
Von besonderem Interesse ist die Auslegung des Begriffs „Arbeitsentgelt“. Nach Auffassung des Gerichts ist der europäische Kompetenzvorbehalt nicht so weit zu verstehen, dass jegliche Maßnahme, die mittelbare Auswirkungen auf das Lohnniveau haben könnte, automatisch unzulässig wäre. Damit schafft die Entscheidung Spielraum für unionsweite Regelungen etwa zur Transparenz, zu Berichtspflichten oder zu fördernden Tarifverhandlungen, ohne dass dies als direkter Eingriff in die Entgeltgestaltung anzusehen wäre.
Praktische Auswirkungen für deutsche Unternehmen
Die Entscheidung bringt für Betriebe in Deutschland zunächst keine unmittelbaren Änderungen der bestehenden Mindestlohnstruktur, wirkt jedoch mittelbar auf künftige Gesetzesinitiativen. Der deutsche gesetzliche Mindestlohn bleibt weiterhin ausschließlich nationale Angelegenheit, auch wenn europäische Mindeststandards künftig stärker als Orientierungsrahmen herangezogen werden können. Unternehmen im Mittelstand, insbesondere Personalverantwortliche und Lohnbuchhaltungen, müssen jedoch damit rechnen, dass Berichts- und Dokumentationspflichten zur Vergütung weiter ausgebaut werden. Ziel ist es, die Transparenz über Einkommensstrukturen zu erhöhen und die Tarifbindung in Branchen zu fördern, in denen sie derzeit schwach ausgeprägt ist. Für Pflegeeinrichtungen, Einzelhandelsunternehmen und Onlinehändler bedeutet dies, dass sie ihre Lohnsysteme und innerbetrieblichen Dokumentationsprozesse genau prüfen sollten, um bei einer etwaigen Fortschreibung der Richtlinienanforderungen auf europäischer oder nationaler Ebene schnell reagieren zu können.
Von praktischer Relevanz sind auch die arbeitsrechtlichen Spannungsfelder, die sich aus der Entscheidung ergeben. Der Gerichtshof erkennt ausdrücklich an, dass die Förderung von Tarifverhandlungen zulässig bleibt, solange daraus keine Verpflichtung resultiert, Gewerkschaften organisatorisch zu stärken oder Mitgliedschaften zu erzwingen. Diese Klarstellung ist insbesondere für Branchen mit stark fragmentierten Beschäftigtenstrukturen wichtig, da Unternehmen weiterhin auf freiwillige betriebliche Modelle setzen können, ohne gegen europäische Vorgaben zu verstoßen.
Fazit und Ausblick für die Unternehmenspraxis
Das Urteil verdeutlicht, dass die europäische Sozialpolitik künftig stärker koordinierend, aber nicht regulierend auf das Lohngefüge einwirken wird. Nationale Spielräume zur Gestaltung von Mindestlöhnen bleiben erhalten, während die EU-Kommission verstärkt auf Transparenz, Monitoring und die Förderung sozialpartnerschaftlicher Verhandlungen setzen dürfte. Für kleine und mittlere Unternehmen ist es daher entscheidend, interne Prozesse im Bereich Personalabrechnung, Controlling und Compliance frühzeitig an mögliche Informationspflichten anzupassen. Auch softwaregestützte Lösungen zur Lohn- und Gehaltsdokumentation gewinnen an Bedeutung, da sie helfen, regulatorische Änderungen effizient abzubilden und revisionssicher umzusetzen.
Unsere Kanzlei begleitet seit vielen Jahren kleine und mittelständische Unternehmen bei der Optimierung von Buchhaltungs- und Personalprozessen. Mit einem klaren Fokus auf Digitalisierung und Automatisierung unterstützen wir unsere Mandanten dabei, rechtliche Anforderungen sicher umzusetzen, Kosten zu senken und ihre Geschäftsprozesse nachhaltig zu optimieren.
Gerichtsentscheidung lesen