Kindergeldanspruch und Selbstunterhalt bei behinderten Kindern – neue Maßstäbe
Mit Urteil vom 25. September 2025 hat der Bundesfinanzhof (Az. III R 20/23) eine für viele Eltern, insbesondere solche mit einem behinderten erwachsenen Kind, bedeutsame Entscheidung getroffen. Im Mittelpunkt stand die Frage, ob Sozialleistungen wie Arbeitslosengeld II oder das heutige Bürgergeld als eigene finanzielle Mittel des Kindes den Kindergeldanspruch beeinflussen. Die Entscheidung stellt klar, dass solche Leistungen nur dann berücksichtigt werden dürfen, wenn sie tatsächlich zur Deckung des Lebensunterhalts des Kindes bestimmt und geeignet sind. Gerade für kleine und mittlere Unternehmen, Pflegeeinrichtungen oder Krankenhäuser mit Beschäftigten in vergleichbaren Familiensituationen besitzt dieses Urteil erhebliche Bedeutung, da es die steuerliche Entlastung der Familien neu justiert.
Nach § 32 Absatz 4 Satz 1 Nummer 3 Einkommensteuergesetz besteht ein Anspruch auf Kindergeld auch für ein volljähriges Kind, das wegen einer vor dem 25. Lebensjahr eingetretenen Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Maßgeblich ist, ob die finanziellen Mittel des Kindes zur Sicherung seines Lebensunterhalts ausreichen. Hierbei sind Einkünfte und Bezüge gegenüber dem existenziellen Lebensbedarf zu vergleichen. In der Praxis betraf das Streitjahr 2019 bis 2020, in dem der Sohn des Klägers neben einer Erwerbsminderungsrente auch Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II erhielt. Die Familienkasse versagte den Kindergeldanspruch mit dem Hinweis auf ausreichende Mittel. Das Finanzgericht und nun auch der Bundesfinanzhof sahen dies anders und präzisierten die Systematik der Einkommensprüfung.
Bewertung der finanziellen Mittel und rechtliche Tragweite der Entscheidung
Der Bundesfinanzhof hat in dieser Grundsatzentscheidung die Abgrenzung zwischen verschiedenen Einkunftsarten und Bezügen erneut geschärft. Demnach gehören grundsätzlich alle Geldzuflüsse, die geeignet und bestimmt sind, den Lebensunterhalt zu decken, zu den finanziellen Mitteln des Kindes. Erwerbsminderungsrenten werden daher grundsätzlich in voller Höhe berücksichtigt, vermindert lediglich um Sozialversicherungsbeiträge und geringe Pauschalen. Die Richter betonten zugleich, dass Unterhaltsleistungen des Kindes an Familienangehörige bei dieser Berechnung keine Verminderung der Einkünfte darstellen, da das Einkommen dem behinderten Menschen tatsächlich zufließt und zweckgebunden für seinen eigenen Bedarf bestimmt ist.
Besonders wichtig ist die Klarstellung zum Umgang mit Sozialleistungen aus einer sogenannten Bedarfsgemeinschaft. Der Bundesfinanzhof differenziert hier zwischen der sozialrechtlichen und der steuerlichen Betrachtung. Zwar dienen Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II dem Lebensunterhalt, doch entfalten sie nicht in jedem Fall dieselbe Funktion im steuerrechtlichen Sinne. Entscheidendes Kriterium ist die Eignung der Leistung, den Unterhalt des Kindes tatsächlich zu decken. Wird, wie im entschiedenen Fall, das Einkommen eines Kindes mit Behinderung innerhalb der Bedarfsgemeinschaft sozialrechtlich auf andere Mitglieder verteilt, dann führen die so ermittelten ALG II-Zahlungen nicht zu einer realen Erhöhung der Selbstunterhaltsfähigkeit. Damit gilt: Eine rein rechnerische Zuweisung von Leistungen rechtfertigt keine Kürzung des Kindergeldes.
Zur Begründung verweist der Bundesfinanzhof auf den Zweck des Kindergeldrechts: Es soll den Eltern finanzielle Unterstützung bieten, solange das Kind auf ihren Unterhalt angewiesen ist. Wird dieser Bedarf durch Transferleistungen an andere Haushaltsmitglieder sozialrechtlich verschoben, ändert das nichts an der ökonomischen Realität des Kindes. Das Gericht lehnt daher eine doppelte Anrechnung ab und schafft so Rechtssicherheit, wann Kindergeld im Zusammenhang mit Grundsicherungsleistungen ruht oder fortbesteht. Diese dogmatische Trennung zwischen Sozial- und Steuerrecht wird in der Beratungspraxis künftig häufig zu überprüfen sein, insbesondere bei komplexen Familienkonstellationen.
Konsequenzen für Unternehmen, Pflegeeinrichtungen und Onlinehändler
Die Entscheidung betrifft unmittelbar Familien, mittelbar aber auch zahlreiche Arbeitgebergruppen. Personalabteilungen kleiner und mittlerer Unternehmen, Pflegeeinrichtungen oder digital aufgestellte Handelsbetriebe müssen künftig verstärkt auf geänderte Kindergeldbescheide oder Rückforderungen bei Beschäftigten achten. Der Bundesfinanzhof hebt mit seiner Entscheidung den Grundsatz hervor, dass jede Sozialleistung nach ihrer tatsächlichen Zweckbestimmung einzuordnen ist. Damit können sich auch Wechselwirkungen mit Lohnsteuerfreibeträgen oder Arbeitgeberzuschüssen ergeben, wenn der Kindergeldanspruch indirekt auf steuerliche Entlastungen Einfluss nimmt.
Für Steuerberatende bedeutet die Entscheidung eine Erweiterung der Prüfungspflichten: In Fällen, in denen Angehörige von Mitarbeitenden oder Mandantinnen Grundsicherungsleistungen erhalten, bedarf es einer individuellen Analyse, ob diese Leistungen bei der Selbstunterhaltsfähigkeit anzusetzen sind. Insbesondere bei Pflegeeinrichtungen oder Krankenhäusern mit vielen sozialversicherten Teilzeitkräften empfiehlt es sich, interne Prozesse zur Dokumentation solcher Fälle anzupassen. Auch Onlinehändler mit dezentralen Beschäftigungsstrukturen können durch automatisierte Buchhaltungssysteme prüfen, ob Familienleistungen korrekt abgebildet werden.
Die Entscheidung hat ferner Bedeutung für die Kommunikation zwischen Familien und Familienkassen. Eltern volljähriger Kinder mit Behinderung sollten künftig genau darlegen, welche Leistungen dem Kind tatsächlich zufließen und ob interne Umverteilungen im Haushalt eine rein fiktive Erhöhung des Einkommens verursachen. Gerade in Fällen mit mehreren Leistungsträgern – Rentenversicherung, Jobcenter und Familienkasse – empfiehlt es sich, die Zahlungsströme nachweislich auseinanderzuhalten. So lassen sich langwierige Rückforderungen vermeiden und die steuerrechtliche Berücksichtigung sichern. Für Unternehmen wiederum ergibt sich die Notwendigkeit, Mitarbeitende bei der Bereitstellung solcher Nachweise zu unterstützen, etwa durch einfache Bescheinigungsverfahren in der Lohnbuchhaltung.
Einordnung und Ausblick für die Praxis der Steuerberatung
Der Bundesfinanzhof schafft mit dieser Entscheidung Rechtssicherheit und stärkt den Schutz behinderter erwachsener Kinder im Kindergeldrecht. Künftig können Eltern und deren steuerliche Vertretung argumentieren, dass ALG II oder Bürgergeld-Leistungen nur dann kindergeldschädlich sind, wenn sie das reale Einkommen des Kindes tatsächlich erhöhen. Diese Klarstellung verhindert Doppelbelastungen und wahrt den sozialen Zweck des Kindergeldes. Für Steuerberaterinnen und Steuerberater ergibt sich daraus eine klare Leitlinie zur Mandatsprüfung: Nur tatsächlich verfügbare Mittel sind in die Vergleichsrechnung einzubeziehen, fiktive oder umverteilte Beträge bleiben außer Ansatz.
Unternehmen profitieren von dieser Rechtsprechung mittelbar, weil Mitarbeitende mit rechtssicherer Kindergeldbasis eine stabilere finanzielle Situation aufweisen und weniger Korrekturmeldungen in der Lohnabrechnung anfallen. Die Entscheidung verdeutlicht zudem die Notwendigkeit digitaler Schnittstellen zwischen Jobcentern, Familienkassen und Unternehmen. Langfristig könnten standardisierte digitale Nachweise den Abgleich solcher Sozialleistungsdaten vereinfachen und Nachforderungen vermeiden.
Unsere Kanzlei begleitet seit Jahren kleine und mittlere Unternehmen, Pflegeeinrichtungen und Onlinehändler bei der Digitalisierung ihrer Buchhaltungs- und Personalprozesse. Durch gezielte Prozessoptimierung und automatisierte Schnittstellen helfen wir, Kosten zu senken und steuerliche Risiken zu minimieren – eine direkte Konsequenz aus der fortschreitenden Digitalisierung und dem Bedarf an rechtssicheren Abläufen im Mittelstand.
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