Kein Anspruch auf Videoverhandlung bei verspätetem Antrag – Bedeutung für Unternehmen und Steuerberatung
Mit seinem Beschluss vom 19. September 2025 (Az. III B 95/24) hat der Bundesfinanzhof klargestellt, dass aus dem verfassungsrechtlich garantierten Anspruch auf rechtliches Gehör nach Artikel 103 Absatz 1 Grundgesetz kein Anspruch auf eine Videoverhandlung folgt, wenn der entsprechende Antrag erst nach Dienstschluss des Gerichts am Vorabend der mündlichen Verhandlung gestellt wird und zudem keine Videokonferenztechnik verfügbar ist. Diese Entscheidung hat erhebliche Bedeutung für alle Beteiligten in finanzgerichtlichen Verfahren – insbesondere für Unternehmen, Steuerberaterinnen und Steuerberater sowie für juristische Vertreter von Körperschaften im digitalen Zeitalter, in dem die Erwartung eines elektronisch gestützten Verfahrens zunehmend zur Regel geworden ist.
Ausgangspunkt war ein Kindergeldstreit, in dessen Rahmen die Klägerin, selbst Rechtsanwältin, kurz vor der anberaumten mündlichen Verhandlung eine Videoverhandlung beantragte. Das Finanzgericht lehnte ab, da zu diesem Zeitpunkt keine funktionsfähige Videotechnik zur Verfügung stand. Der Antrag sei zudem zu spät erfolgt, um organisatorisch umgesetzt werden zu können. Der Bundesfinanzhof bestätigte diese Auffassung und verwies auf die prozessuale Eigenverantwortung der Parteien, rechtzeitig Anträge zu stellen. Der Beschluss verdeutlicht, dass die Digitalisierung des Verfahrensrechts Grenzen dort findet, wo der Ablauf des gerichtlichen Verfahrens und die Funktionsfähigkeit des Gerichts beeinträchtigt würden.
Rechtliche Würdigung und Begründung der Entscheidung
Der Bundesfinanzhof betonte, dass der Anspruch auf rechtliches Gehör sicherstellt, dass jede Partei Gelegenheit hat, ihr Vorbringen zur Kenntnis des Gerichts zu bringen und sich zur Sache zu äußern. Allerdings begründet dieser Anspruch keine Verpflichtung der Gerichte, technische Lösungen kurzfristig oder spontan bereitzustellen. Die Finanzgerichtsordnung verweist in § 155 in Verbindung mit § 128a der Zivilprozessordnung darauf, dass die Durchführung einer Videoverhandlung unter dem Vorbehalt der Eignung des Falles und der vorhandenen technischen Ausstattung steht. Damit hat der Gesetzgeber bewusst die Entscheidung über die Durchführung einer Videoverhandlung in das pflichtgemäße Ermessen des Gerichts gelegt.
Im konkreten Fall lag der Antrag auf Videoverhandlung außerhalb der üblichen Dienstzeiten des Gerichts und nur wenige Stunden vor Beginn der Verhandlung. Der Senat stellte fest, dass unter diesen Umständen weder organisatorisch noch technisch eine Umsetzung möglich war. Hinzu kam, dass die Antragstellerin keine erheblichen Gründe glaubhaft darlegte, die eine kurzfristige Terminverlegung erforderlich gemacht hätten. Ein solcher Antrag in „letzter Minute“ unterliegt nach ständiger Rechtsprechung höheren Anforderungen an die Glaubhaftmachung, gerade weil dem Gericht keine Gelegenheit bleibt, Rückfragen zu stellen oder Alternativen zu prüfen.
Die Entscheidung zeigt deutlich, dass Prozessrechte wie der Anspruch auf rechtliches Gehör stets im Rahmen der praktischen Gegebenheiten des Justizbetriebs auszulegen sind. Die Richter verwiesen zudem auf die jüngsten gesetzlichen Änderungen zur Förderung der Videokonferenztechnik durch das Gesetz vom 15. Juli 2024, das den Gerichten größere Flexibilität einräumt, aber eben keine Pflicht zur Bereitstellung elektronischer Infrastruktur schafft. Solange eine Videokonferenz technisch nicht verfügbar ist, besteht kein Rechtsanspruch auf ihre Nutzung. Damit bleibt die Entscheidung im Spannungsfeld zwischen der fortschreitenden Digitalisierung gerichtlicher Verfahren und den organisatorischen Realitäten der Justiz klar formalistisch, aber rechtlich konsequent.
Auswirkungen auf kleine Unternehmen, Steuerberatung und digitale Verfahrenspraxis
Für kleine und mittelständische Unternehmen, Steuerberaterinnen und Steuerberater sowie Finanzinstitutionen ist diese Entscheidung von praktischer Bedeutung. Sie verdeutlicht, dass trotz wachsender Digitalisierung der Justiz prozessuale Formalien und Fristen weiterhin höchste Priorität haben. Wer im Rahmen finanzgerichtlicher Verfahren eine Videoverhandlung wünscht, muss diesen Wunsch frühzeitig artikulieren und prüfen, ob die zuständige Kammer über die dafür notwendige Ausstattung verfügt. Gerade Kanzleien, die bundesweit Mandate vertreten, oder kleine Pflegeeinrichtungen und Krankenhäuser, die aus organisatorischen Gründen auf digitale Beteiligungsformen angewiesen sind, sollten rechtzeitig mit dem Gericht kommunizieren, um keine Fristen oder Chancen auf Verfahrensbeteiligung zu versäumen.
Auch Onlinehändler und Dienstleistungsunternehmen mit Sitz fernab des zuständigen Gerichts sollten berücksichtigen, dass die technische Möglichkeit einer Videokonferenz nicht automatisch besteht. Die Entscheidung signalisiert, dass die Gerichte selbst im Zeitalter digitaler Aktenführung weiterhin ihre Organisationshoheit behalten. Für Steuerberatende bedeutet das: Mandanten müssen umfassend darüber informiert werden, dass digitale Kommunikationswege wie beA, E-Mail oder Videoverhandlung keine garantierten Rechte, sondern Ermessensentscheidungen des Gerichts sind. Besonders relevant ist dies bei kurzfristigen Verfahrensanträgen, bei denen die Fristwahrung und die technische Durchführbarkeit in einem engen Zeitfenster zusammentreffen. Wer hier zu spät agiert, riskiert eine Entscheidung ohne persönliche Teilnahme und kann daraus keinen Gehörsanspruch herleiten.
Langfristig zeigt die Entscheidung des Bundesfinanzhofs aber auch einen Handlungsauftrag für Unternehmen und Beraterschaften: Die innerbetriebliche Organisation und die Abstimmung mit der Rechtsvertretung sollten so gestaltet sein, dass keine ad-hoc-Anträge in zeitkritischen Verfahren erforderlich werden. Unternehmen profitieren dann von einer stringenten digitalen Prozessplanung, die sicherstellt, dass alle prozessualen Schritte frühzeitig und technisch sauber vorbereitet sind. Gerade für Mittelständler, die zunehmend digitalisiert arbeiten, ist diese Entscheidung Mahnung und Handlungsanleitung zugleich, juristische Abläufe in die eigene Digitalstrategie einzubeziehen.
Schlussfolgerung und Konsequenzen für die Praxis
Die Entscheidung des Bundesfinanzhofs stellt klar, dass der Anspruch auf rechtliches Gehör nicht mit dem Recht auf digitale Verhandlung gleichzusetzen ist. Sie verdeutlicht zugleich, dass Gerichte nicht verpflichtet sind, kurzfristige technische Lösungen bereitzustellen. Für Unternehmen jeder Größe bleibt daher die prozessuale Planung entscheidend, um den eigenen Standpunkt effektiv einzubringen. Frühzeitige Kommunikation mit dem Gericht und das Verständnis der technischen Rahmenbedingungen sind unerlässlich, um Verfahrensnachteile zu vermeiden.
In einer zunehmend digitalisierten Steuer- und Rechtslandschaft bleibt die Rechtsprechung eine Erinnerung daran, dass Digitalisierung nicht alle formalen Grenzen des Prozessrechts aufhebt. Kanzleien und Unternehmen sollten dies als Anlass nehmen, die eigenen Verfahrensabläufe zu prüfen und interne Prozesse zu digitalisieren, bevor Engpässe entstehen. Unsere Kanzlei unterstützt kleine und mittlere Unternehmen bei der Digitalisierung ihrer Buchhaltungs- und Steuerprozesse und zeigt praxisnah, wie sich diese Optimierungen in erhebliche Kostenvorteile und effizientere Abläufe umsetzen lassen. Mit unserer Erfahrung in Prozessoptimierung und digitaler Mandatsbetreuung begleiten wir Unternehmen verschiedenster Branchen – vom kleinen Betrieb bis zum mittelständischen Unternehmen – auf ihrem Weg zu einer modernen, rechtssicheren Verfahrenskultur.
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