Gemeinnützigkeit im Fokus: Bedeutung des Verfahrensrechts für steuerbegünstigte Organisationen
Der Bundesfinanzhof hat mit Beschluss vom 17. November 2025 (Az.: V B 37/24) eine grundlegende Entscheidung zur Gemeinnützigkeit und zur Bedeutung des Verfahrensrechts in finanzgerichtlichen Verfahren getroffen. Im Zentrum steht die Pflicht der Finanzgerichte, den gesamten Akteninhalt vollständig zu würdigen. Konkret ging es um einen nicht eingetragenen Verein, dessen Zweck laut Satzung die Förderung der Rettung aus Lebensgefahr und die Unfallverhütung war. Das Finanzgericht München hatte dem Verein die Steuerbefreiung nach § 5 Absatz 1 Nummer 9 Körperschaftsteuergesetz versagt, weil es der Auffassung war, der Verein habe seine gemeinnützigen Zwecke nicht tatsächlich verwirklicht. Der Bundesfinanzhof hob dieses Urteil auf und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung an das Finanzgericht zurück, da ein Verstoß gegen § 96 Absatz 1 Satz 1 Finanzgerichtsordnung vorlag. Diese Vorschrift verpflichtet das Gericht, seine Entscheidung auf das gesamte Ergebnis des Verfahrens zu stützen.
Zur Begründung führte der Bundesfinanzhof aus, dass das Finanzgericht die protokollierten Ausführungen des Klägers nicht vollständig berücksichtigt habe. Im Verfahren hatte der Kläger ausführlich über ein spezielles Trainingskonzept berichtet, das elementare Elemente der Unfallprävention enthalte. Das Finanzgericht hatte dennoch festgestellt, es liege kein erkennbares Konzept vor, und die Gemeinnützigkeit mit dieser Begründung verneint. Diese Fehleinschätzung entsprach nicht dem Akteninhalt, womit ein erheblicher Verfahrensfehler gegeben war. Damit hebt die Entscheidung hervor, wie eng die materiell-rechtliche Beurteilung der Gemeinnützigkeit mit verfahrensrechtlicher Sorgfalt verknüpft ist.
Rechtsdogmatische Einordnung und steuerliche Konsequenzen
Der Beschluss verdeutlicht, dass gemeinnützige Zwecke nach den §§ 52 bis 54 Abgabenordnung zwar eine inhaltliche Prüfung erfordern, dass diese Prüfung aber nur dann Bestand hat, wenn das Gericht das gesamte Vorbringen der Beteiligten sorgfältig berücksichtigt. Unter Gemeinnützigkeit versteht die Abgabenordnung das selbstlose Fördern der Allgemeinheit auf materiellem, geistigem oder sittlichem Gebiet. Das Finanzgericht hatte seiner Entscheidung allerdings nur Teile des tatsächlichen Wirkens des Vereins zugrunde gelegt. Der Bundesfinanzhof stellte klar, dass vorbereitende Handlungen bereits als Zweckverwirklichung genügen können, wenn sie erkennbar auf die Allgemeinheit ausgerichtet sind. So kann bereits die Verbreitung von Informationen, Schulungsmaterial oder Aufklärungsarbeit zur Unfallverhütung ein ausreichender Beitrag zur Förderung der Allgemeinheit im Sinne des § 52 Absatz 1 Satz 1 Abgabenordnung sein.
Der Bundesfinanzhof verknüpft diese Aussage mit der Interpretation des § 57 Abgabenordnung, wonach das sog. Unmittelbarkeitsgebot lediglich eine Zurechnungsnorm darstellt. Damit wird die tatsächliche Tätigkeit der Körperschaft nicht ausschließlich daran gemessen, ob sie selbst operative Leistungen erbringt; vielmehr zählt, ob die Tätigkeit objektiv auf die Förderung des steuerbegünstigten Zwecks gerichtet ist. Diese rechtliche Differenzierung ist insbesondere für Organisationen relevant, die in Netzwerken agieren, mit Kooperationspartnern zusammenarbeiten oder Maßnahmen der Öffentlichkeitsarbeit durchführen, wie es häufig Pflegeeinrichtungen, Kliniken oder Bildungsvereine im Gesundheitsumfeld tun. Eine zu enge Auslegung durch Finanzgerichte würde dem Sinn gemeinnütziger Förderung der Allgemeinheit widersprechen. Der Bundesfinanzhof korrigierte hier eine praxisfern restriktive Auslegung und betonte die Bedeutung umfassender Tatsachenfeststellung.
- Das Finanzgericht muss nach § 96 Absatz 1 Satz 1 Finanzgerichtsordnung stets das gesamte Prozessmaterial in seine Entscheidungsfindung einbeziehen.
- Eine Verletzung dieser Pflicht liegt vor, wenn das Gericht unterlassene oder missverstandene Tatsachen zugrunde legt, die nach dem Akteninhalt anders belegt sind.
- Für die steuerliche Anerkennung der Gemeinnützigkeit reicht es aus, wenn die Tätigkeit erkennbar darauf ausgerichtet ist, die Allgemeinheit zu fördern – selbst dann, wenn vorbereitende oder begleitende Handlungen im Vordergrund stehen.
Mit dieser Dogmatik stärkt der Bundesfinanzhof die Position steuerbegünstigter Körperschaften und sorgt zugleich für Rechtssicherheit. Kleine Vereine, aber auch spezialisierte Unternehmen, die gemeinnützige Tochterstrukturen betreiben, profitieren von dieser Klarstellung.
Relevanz für Unternehmen, Steuerberatende und Institutionen
Für kleine und mittelständische Unternehmen, die in Kooperation mit gemeinnützigen Institutionen Projekte fördern oder selbst steuerbegünstigte Betriebsgesellschaften einsetzen, ist die Entscheidung in mehrfacher Hinsicht bedeutsam. Zum einen unterstreicht sie, dass eine sorgfältige Dokumentation sämtlicher Aktivitäten entscheidend ist. Werden Schulungen, Workshops oder Informationskampagnen durchgeführt, sollte der inhaltliche Bezug zum Förderzweck klar beschrieben und nachgewiesen werden. Zum anderen können Unternehmen, etwa Pflegeeinrichtungen, Krankenhäuser oder Onlinehändler mit Corporate-Social-Responsibility-Programmen, aus der Entscheidung lernen, dass auch vorbereitende Tätigkeiten wie Öffentlichkeitsarbeit und Sensibilisierung steuerlich relevant sein können, wenn deren Zielrichtung auf die Förderung der Allgemeinheit gerichtet ist.
Steuerberatende sollten ihre Mandanten, die steuerbegünstigte Projekte durchführen, auf die Bedeutung dieser Feststellungen hinweisen. Bei der Erstellung oder Prüfung von Satzungen und Tätigkeitsberichten ist besonders zu beachten, dass die tatsächliche Geschäftsführung und Dokumentation im Einklang mit den Satzungszwecken steht. Ein formales Auseinanderfallen führt häufig zur Aberkennung der Gemeinnützigkeit, was erhebliche steuerliche Konsequenzen haben kann. Banken und Finanzinstitutionen, die mit gemeinnützigen Organisationen zusammenarbeiten, können durch dieses Urteil ebenfalls profitieren, da es deren steuerliche Qualifizierung stützt und Rechtssicherheit für Zuwendungen erhöht. Besonders wichtig für Onlinehändler und Dienstleister, die Spendenaktionen initiieren oder soziale Programme unterstützen, ist, dass sie die inhaltliche Zweckverfolgung transparent dokumentieren. Dies kann im Rahmen digitaler Prozesse effizient gestaltet werden – beispielsweise durch automatisierte Berichterstattung innerhalb der Buchhaltungssoftware, die zugleich steuerliche Nachweise liefert.
Darüber hinaus zeigt das Urteil, dass die Zusammenarbeit zwischen steuerpflichtigen und steuerbegünstigten Einrichtungen verstärkt einer rechtlichen Prüfung unterzogen werden kann. Eine präzise Abgrenzung zwischen wirtschaftlichem Geschäftsbetrieb und gemeinnützigem Tätigkeitsbereich bleibt unerlässlich. Der Maßstab der Unmittelbarkeit verlangt eine nachvollziehbare Zuordnung. Die Entscheidung des Bundesfinanzhofs erleichtert dabei allerdings den Nachweis, dass vorbereitende oder kommunikative Maßnahmen als unmittelbare Zweckverwirklichung anzuerkennen sind.
Schlussfolgerung und Handlungsempfehlung für die Praxis
Der aktuelle Beschluss des Bundesfinanzhofs stärkt nicht nur gemeinnützige Vereine, sondern wirkt weit über den Einzelfall hinaus. Er betont die Bedeutung korrekter Tatsachenwürdigung und schafft Klarheit, dass vorbereitende oder edukative Maßnahmen ausreichend sein können, um steuerbegünstigte Zwecke zu erfüllen. Für Unternehmen, die eigene gemeinnützige Initiativen verfolgen oder solche Kooperationen eingehen, ergibt sich ein deutlicher Appell zur sorgfältigen Dokumentation der Aktivitäten und zu einer präzisen formalen Satzung. Steuerberatende sollten Mandanten ermutigen, die tatsächliche Geschäftsführung regelmäßig auf Übereinstimmung mit den steuerlichen Anforderungen zu überprüfen, um spätere Konflikte mit der Finanzverwaltung zu vermeiden. Finanzinstitutionen wiederum gewinnen durch diese Klarstellung zusätzliche Rechtssicherheit bei der Bewertung von Spenden, Fördermitteln und Partnerschaften.
Unsere Kanzlei begleitet kleine und mittelständische Unternehmen auf dem Weg zu effizienteren, rechtskonformen Prozessen. Mit Fokus auf die Digitalisierung und Prozessoptimierung in der Buchhaltung unterstützen wir Mandanten verschiedenster Branchen – von Pflegeeinrichtungen über Produktionsunternehmen bis hin zu Onlinehändlern – bei der Umsetzung rechtssicherer und zugleich kostensparender Strukturen im steuerlichen und organisatorischen Bereich.
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