Formeller Buchführungsmangel als Risiko für Unternehmen
Mit Urteil vom 29. Juli 2025 (Az. X R 23-24/21) hat der Bundesfinanzhof eine für Unternehmen aller Branchen bedeutsame Entscheidung getroffen. Im Mittelpunkt steht die Frage, wann formelle Buchführungsmängel eine Schätzungsbefugnis der Finanzbehörden nach § 162 Abgabenordnung begründen und wie die Auswahl zwischen verschiedenen Schätzungsmethoden zu erfolgen hat. Konkret ging es um einen Gastronomiebetrieb, dessen elektronisches Kassensystem zwar Stornierungen zuließ, diese aber nicht in den Tagesabschlüssen auswies. Nach Auffassung des Gerichts liegt in einem solchen Fall ein gravierender formeller Buchführungsmangel vor, der ausreicht, um die Ordnungsmäßigkeit der Buchführung insgesamt zu verneinen. Unternehmen, die regelmäßig mit Bargeschäften arbeiten – etwa Restaurants, Pflegeeinrichtungen mit Barzahlung, kleinere Einzelhändler oder Apotheken – sind durch diese Entscheidung unmittelbar betroffen. Selbst bei vollständiger und korrekter Erfassung der Einnahmen kann ein technischer oder organisatorischer Mangel in der Kassenführung dazu führen, dass die Buchhaltung ihre Beweiskraft verliert. Das Gericht betonte, dass ein nachträglicher Ausgleich, etwa durch ergänzende Dokumentation oder Zeugenbeweis, nicht möglich ist. Die Pflicht zur ordnungsgemäßen Buchführung nach § 146 Abgabenordnung verlangt vielmehr eine systematische, manipulationssichere und nachvollziehbare Aufzeichnung sämtlicher Geschäftsvorfälle.
Damit rückt die Bedeutung der technischen Ausstattung und der internen Kontrollmechanismen weiter in den Fokus, auch für kleine und mittelständische Unternehmen. Onlinehändler, die in ihren Zahlungsprozessen Mischformen aus Bar- und Onlinezahlungen nutzen, oder Pflegeeinrichtungen, die Patientenzuzahlungen vor Ort erheben, müssen sicherstellen, dass die eingesetzten Systeme jede Transaktion vollständig abbilden und Stornierungen oder Korrekturen transparent nachvollziehbar bleiben.
Auswahl und Begründung von Schätzungsmethoden bei der Besteuerung
Im zweiten Teil des Urteils konkretisierte der Bundesfinanzhof die Anforderungen an die Finanzverwaltung bei der Anwendung von Schätzungsmethoden. Zwar besitzen Finanzämter und Finanzgerichte grundsätzlich Wahlfreiheit, wie sie fehlende Besteuerungsgrundlagen ermitteln. Diese Freiheit ist jedoch durch das Prinzip der Verhältnismäßigkeit und das pflichtgemäße Ermessen nach § 5 Abgabenordnung begrenzt. Das heißt, sie müssen jene Methode wählen, die das wahrscheinlichste, also wirklichkeitsnächste Ergebnis erwarten lässt. Der Bundesfinanzhof stellte klar, dass die sogenannte Richtsatzschätzung, also der Vergleich mit branchentypischen Durchschnittswerten aus den amtlichen Richtsatzsammlungen des Bundesministeriums der Finanzen, nur nachrangig einzusetzen ist, wenn genauere Methoden wie ein innerer Betriebsvergleich oder eine Nachkalkulation zur Verfügung stehen. Der innere Betriebsvergleich, der auf die individuellen Kennzahlen eines Unternehmens und die Entwicklung der Vorjahre abstellt, bietet in der Regel eine höhere Genauigkeit und damit eine bessere Annäherung an den tatsächlichen Gewinn.
In dem entschiedenen Fall hatte das Finanzamt eine Richtsatzschätzung vorgenommen, diese aber eigenmächtig durch einen sogenannten Sicherheitsabschlag von 30 Prozent korrigiert, ohne die Grundlage dieser Anpassung nachvollziehbar zu erläutern. Das Finanzgericht hatte diese Vorgehensweise bestätigt, wurde jedoch vom Bundesfinanzhof wegen einer unzureichenden Begründung aufgehoben. Entscheidend sei, dass jede Schätzung transparent, logisch nachvollziehbar und auf festgestellte Tatsachen gestützt sei. Pauschale Abschläge oder Zu- und Zuschläge ohne konkrete Begründung verstießen gegen die Anforderungen an eine rechtmäßige Ermessensausübung. Für Steuerpflichtige bedeutet dies, dass sie im Streitfall das Fehlen einer nachvollziehbaren Schätzungsbegründung erfolgreich rügen können.
- Ein formeller Buchführungsmangel führt zur Schätzungsbefugnis der Finanzbehörde, auch ohne Beweis tatsächlicher Unrichtigkeit.
- Finanzamt und Finanzgericht müssen die Wahl ihrer Schätzungsmethode nach objektiven Kriterien begründen.
- Eine griffweise oder pauschale Schätzung ist nur zulässig, wenn präzisere Methoden nachweislich nicht anwendbar sind.
Damit stärkt das Urteil die Rechtssicherheit für Unternehmerinnen und Unternehmer, die sich gegen sachlich nicht begründete Hinzuschätzungen zur Wehr setzen möchten. Es verdeutlicht zugleich, dass unzureichende Begründungen auf behördlicher Seite den gesamten Steuerbescheid angreifbar machen können.
Relevanz für kleine und mittelständische Unternehmen in der Praxis
Die Entscheidung hat weitreichende Implikationen für die betriebliche Praxis. Insbesondere kleine Unternehmen, die mit einfachen Kassensystemen arbeiten, müssen ihr Augenmerk auf die technische Dokumentation und den Nachweis der Unveränderbarkeit legen. Elektronische Kassensysteme, die Stornierungen zwar ermöglichen, diese aber nicht transparent in den Z-Bons ausweisen, bergen ein erhebliches Risiko. In solchen Fällen kann die Finanzverwaltung die Buchführung verwerfen und auf Basis von Schätzungen zu einer deutlich höheren Steuerlast gelangen. Für Onlinehändler, die zum Teil mit Barzahlung bei Lieferung oder hybriden Zahlungsmodellen arbeiten, sind die Grundsätze gleichermaßen relevant. Auch Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen, die Patientenbeteiligungen vereinnahmen, unterliegen den Anforderungen an eine vollständige und nachvollziehbare Kassenorganisation. Entscheidend ist, dass alle Zahlungsvorgänge so dokumentiert sind, dass sich Stornierungen, Rücknahmen oder Umbuchungen jederzeit nachvollziehen lassen.
Darüber hinaus wirft das Urteil die Frage auf, wie Unternehmen künftig mit Richtsatzschätzungen umgehen sollten. Die Richtsatzsammlung des Bundesministeriums der Finanzen bildet nur Durchschnittswerte ab und kann die wirtschaftliche Realität spezialisierter Unternehmen – etwa Pflegebetriebe mit hohen Materialkosten oder Gastronomien mit außergewöhnlicher Wareneinschlagquote – kaum erfassen. Gerade deshalb ist es für Steuerpflichtige ratsam, eigene betriebsinterne Kennzahlen zu pflegen, regelhafte interne Vergleichsrechnungen anzustellen und diese auch zu dokumentieren. Wer über belastbare kaufmännische Daten verfügt, kann in einer Betriebsprüfung nachweisen, dass die eigenen Werte plausibel sind und eine externe Richtsatzschätzung fachlich ungeeignet wäre. Damit gewinnen die Themen Datenqualität, digitale Buchführung und interne Prozesssicherheit weiter an Bedeutung.
Für Steuerberaterinnen, Wirtschaftsprüfer sowie Finanzabteilungen im Mittelstand bedeutet das Urteil, dass sie Klientinnen und Klienten noch intensiver auf die rechtssichere elektronische Dokumentation vorbereiten sollten. Die Trennung zwischen formeller und materieller Ordnungsmäßigkeit bleibt zwar bestehen, doch das Gericht hat klargestellt, dass allein ein formeller Mangel die Grundlage für Schätzungen liefern kann. Umso wichtiger ist es, regelmäßig interne Prüfungen der Kassensysteme und Datenflüsse durchzuführen – insbesondere vor einer anstehenden Betriebsprüfung.
Fazit: Rechtssicherheit durch saubere Prozesse und Digitalisierung
Die aktuelle Entscheidung des Bundesfinanzhofs zeigt, wie schmal der Grat zwischen formaler Ordnungsmäßigkeit und steuerlicher Risikoexposition ist. Unternehmen aller Größen sind gut beraten, die Anforderungen aus § 146 und § 162 Abgabenordnung ernst zu nehmen und ihre Kassen- sowie Buchführungsprozesse regelmäßig zu überprüfen. Wer eine manipulationssichere, lückenlose Dokumentation seiner Geschäftsvorfälle gewährleisten kann, minimiert nicht nur das Risiko von Hinzuschätzungen, sondern stärkt auch die eigene Verhandlungsposition gegenüber der Finanzverwaltung. Gerade für kleine und mittelständische Betriebe, Pflegeeinrichtungen, Krankenhäuser und Onlinehändler ist der Weg über Digitalisierung und Prozessoptimierung der wirtschaftlich effizienteste Ansatz. Unsere Kanzlei unterstützt Mandantinnen und Mandanten bei der digitalen Transformation der Buchhaltung, entwickelt schlanke, prüfungssichere Prozesse und zeigt Wege auf, wie sich durch durchdachte Automatisierung erhebliche Kostenersparnisse erzielen lassen.
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