Die korrekte Eingruppierung von Beschäftigten stellt für viele Einzelhandelsunternehmen eine rechtliche und administrative Herausforderung dar. Besonders in tarifgebundenen Betrieben hängt die Entgeltzuordnung maßgeblich von den tarifvertraglichen Regelungen ab. Eine aktuelle Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 20. August 2025 (Az. 4 ABN 34/25) verdeutlicht die Bedeutung präziser tariflicher Auslegung und zeigt, worauf Arbeitgeber künftig achten müssen, um rechtssicher einzugruppieren.
Tarifliche Eingruppierung und Bedeutung beruflicher Qualifikation
Im zugrunde liegenden Fall stritten Arbeitgeberin und Betriebsrat eines Einzelhandelsunternehmens über die Eingruppierung einer neuen Mitarbeiterin in die Gehaltsgruppe I des Gehalts- und Lohntarifvertrags für den Einzelhandel in Niedersachsen. Die Arbeitnehmerin verfügte über keine kaufmännische Berufsausbildung und sollte im ersten Tätigkeitsjahr beschäftigt werden. Der Betriebsrat argumentierte, dass sie aufgrund der ausgeübten Tätigkeit als Verkäuferin in die höhere Gehaltsgruppe II einzugruppieren sei, da die Tätigkeit ausdrücklich als Beispiel für diese Gruppe genannt wird. Der Arbeitgeber sah dies anders und beantragte die gerichtliche Ersetzung der verweigerten Zustimmung.
Das Arbeitsgericht gab dem Arbeitgeber Recht, ebenso wie das Landesarbeitsgericht. Der Betriebsrat legte daraufhin Nichtzulassungsbeschwerde ein, mit der er erreichen wollte, dass sich das höchste Arbeitsgericht mit der Rechtsfrage befasst, ob das Vorliegen eines Tätigkeitsbeispiels aus der höheren Gruppe für die Eingruppierung ausreicht. Das Bundesarbeitsgericht verneinte die grundsätzliche Bedeutung dieser Frage und wies die Beschwerde zurück.
Rechtsauslegung und Begründung der Entscheidung
Das Bundesarbeitsgericht stellte klar, dass die tarifliche Systematik aus Manteltarifvertrag und Gehalts- und Lohntarifvertrag für den Einzelhandel eindeutig ist. Demnach hängt die Eingruppierung nicht allein von der konkret ausgeübten Tätigkeit ab, sondern insbesondere von der beruflichen Qualifikation oder der Dauer einschlägiger Berufserfahrung. Gehaltsgruppe I erfasst Beschäftigte ohne abgeschlossene Berufsausbildung, während Gehaltsgruppe II ausdrücklich eine abgeschlossene einschlägige Ausbildung oder – alternativ – eine mindestens dreijährige Tätigkeit nach Vollendung des 18. Lebensjahres in Gruppe I voraussetzt.
Darüber hinaus wies das Gericht darauf hin, dass Tätigkeitsbeispiele in Tarifverträgen keine eigenständigen Einstufungskriterien begründen, wenn der Tariftext zusätzliche formale Anforderungen enthält. Anders ausgedrückt: Das Tätigkeitsbeispiel „Verkäuferin“ in Gehaltsgruppe II entfaltet seine Bedeutung nur, wenn die dort genannte Qualifikationsvoraussetzung ebenfalls vorliegt. Eine Beschäftigte ohne abgeschlossene Ausbildung kann daher nicht allein aufgrund ihrer Tätigkeit automatisch der höheren Gruppe zugeordnet werden, sondern erst dann, wenn sie die geforderte Berufserfahrung nachweist.
Die Entscheidung folgt der tarifrechtlichen Auslegungstradition, nach der Tarifnormen im Zusammenhang und nicht isoliert zu lesen sind. Damit verdeutlicht das Gericht, dass eine Eingruppierung stets das Zusammenspiel von Qualifikation, Tätigkeitsanforderung und tariflicher Systematik berücksichtigen muss. Für Betriebsräte bedeutet dies, dass ein Widerspruch gegen eine beabsichtigte Eingruppierung fundiert begründet sein muss und nicht allein auf eine Funktionsbezeichnung gestützt werden kann.
Handlungsrelevanz für Unternehmen und Branchenpraxis
Für kleine und mittelständische Einzelhändler, aber auch für Pflegeeinrichtungen oder Onlinehändler mit tarifgebundenem Personalmanagement, ergibt sich aus dieser Entscheidung ein klarer Handlungsauftrag: Die betriebliche Entgeltstruktur sollte regelmäßig auf ihre tarifliche und tatsächliche Konsistenz überprüft werden. Arbeitgeber müssen darauf achten, dass Eingruppierungsentscheidungen dokumentiert und nachvollziehbar begründet sind, da insbesondere Betriebsräte nach § 99 Betriebsverfassungsgesetz Mitspracherechte bei der Eingruppierung besitzen.
Für Unternehmen in Wachstumsbranchen wie dem E-Commerce, wo häufig Quereinsteiger ohne formale Ausbildung tätig sind, kann die Entscheidung erhebliche Relevanz entfalten. Auch wenn Tätigkeiten wie Versand, Kundenservice oder Beratung den Beispielstätigkeiten höherer Gehaltsgruppen ähneln, führt dies ohne entsprechende Ausbildung oder Erfahrungszeit nicht automatisch zu einem höheren Tarifentgelt. Arbeitgeber sollten daher bereits im Bewerbungsprozess und bei Vertragsgestaltung darauf achten, ob Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter formell die Voraussetzungen für eine bestimmte Entgeltgruppe erfüllen.
Darüber hinaus empfiehlt es sich, in Personalabteilungen klare arbeitsrechtliche Standards zu implementieren, um Eingruppierungen rechtssicher vorzunehmen. Schulungen für Führungskräfte und HR-Verantwortliche tragen dazu bei, tarifliche Bewertungsfehler und potenzielle Konflikte mit Betriebsräten zu vermeiden. Für steuerberatende Kanzleien und Buchhaltungsdienstleister, die Lohn- und Gehaltsabrechnungen für Einzelhandelsbetriebe übernehmen, bietet die Entscheidung wichtige Hinweise zur korrekten tariflichen Zuordnung in der Entgeltabrechnung. Eine gute Dokumentation schützt hier vor Nachforderungen und möglichen arbeitsrechtlichen Verfahren.
Zusammenfassung und Ausblick
Das Bundesarbeitsgericht hat mit seiner Entscheidung vom 20. August 2025 die Abgrenzung der Eingruppierung im tarifgebundenen Einzelhandel erneut präzisiert und dabei das Erfordernis einer einschlägigen Berufsausbildung oder einer dreijährigen Berufserfahrung nach Vollendung des 18. Lebensjahres stark betont. Diese Klarstellung sorgt für mehr Rechtssicherheit, verpflichtet Unternehmen aber auch zu einer sorgfältigeren Prüfung der Eingruppierungskriterien. Unmittelbar betroffen sind insbesondere Betriebe, die regelmäßig ungelernte Kräfte oder Quereinsteiger beschäftigen, etwa kleine Supermärkte, Pflegeeinrichtungen mit hauswirtschaftlichen Tätigkeiten oder Onlinehändler mit stationären Verkaufsstellen.
Die Entscheidung mahnt Personalverantwortliche, Betriebsratsgremien und beratende Stellen gleichermaßen zu einer stringenten Umsetzung der tariflichen Vorgaben. Unternehmen, die auf digitale Lohnprozesse und automatisierte Personalmanagementsysteme setzen, können Eingruppierungen effizienter und rechtssicher abbilden. Unsere Kanzlei unterstützt kleine und mittelständische Unternehmen bei der Digitalisierung der Lohnbuchhaltung, bei der Prozessoptimierung in der Buchhaltung und bei der rechtssicheren Gestaltung interner HR-Prozesse. Die daraus resultierenden Effizienzgewinne und Kostenvorteile sind insbesondere für wachsende Betriebe von erheblichem Nutzen.
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