Antidumpingzölle und ihre nachträgliche Erhebung im Lichte des BFH
Mit seiner Entscheidung vom 8. April 2025 (Az. VII R 28/23) hat der Bundesfinanzhof eine zentrale Frage des europäischen Zollrechts beantwortet: Können Antidumpingzölle auch dann noch nacherhoben werden, wenn die zugrunde liegende Maßnahme der Europäischen Union später aufgehoben wurde? Diese Frage hat erhebliche wirtschaftliche und rechtliche Relevanz für importorientierte Unternehmen, insbesondere für mittelständische Betriebe, Onlinehändler und Fertigungsunternehmen, die regelmäßig mit globalen Lieferketten arbeiten. Ebenso betrifft sie Banken und Finanzinstitutionen, die Einfuhrgeschäfte finanzieren.
Der Fall betraf Schraubenimporte, die ursprünglich aus Malaysia eingeführt worden waren, tatsächlich aber nach Erkenntnissen des Europäischen Amts für Betrugsbekämpfung (OLAF) aus der Volksrepublik China stammten. Während zum Zeitpunkt der Einfuhr im Jahr 2010 ein endgültiger Antidumpingzoll aufgrund der Verordnung (EG) Nr. 91/2009 galt, wurde diese Verordnung 2016 durch die Durchführungsverordnung (EU) 2016/278 aufgehoben. Das Finanzgericht Hamburg hatte deshalb argumentiert, dass eine spätere Nacherhebung unzulässig sei. Der Bundesfinanzhof folgte dieser Argumentation nicht. Damit klärt das Urteil, dass eine Aufhebung solcher Schutzmaßnahmen keine rückwirkende Wirkung entfaltet.
Rechtliche Begründung und Systematik des BFH-Urteils
Die Entscheidung des Bundesfinanzhofs orientiert sich eng an der zuvor vom Gerichtshof der Europäischen Union in der Rechtssache Autoridade Tributária e Aduaneira (C-412/22) entwickelten Linie. Danach entfaltet die Aufhebung einer Antidumpingmaßnahme keine Rückwirkung. Vielmehr gilt sie ausschließlich für die Zukunft. Bereits während der Geltung der aufgehobenen Maßnahme entstandene Zollschulden bleiben wirksam und können auch nach der Aufhebung innerhalb der Verjährungsfrist nacherhoben werden.
Juristisch behielt der Bundesfinanzhof damit die Grundlogik der Zollschuldentstehung bei: Nach Artikel 201 des Zollkodex entsteht die Zollschuld mit der Annahme der Zollanmeldung. Wenn zum Zeitpunkt der Anmeldung eine Antidumpingmaßnahme galt, ist deren späteres Außerkrafttreten unerheblich. Die Geltung der Maßnahme wird also nicht nachträglich beseitigt. Daraus folgt, dass die Zollbehörden abgabenrechtlich befugt bleiben, unrechtmäßig unterlassene oder zu niedrige Beträge später festzusetzen.
Der Bundesfinanzhof weist auch darauf hin, dass die teleologische Auslegung des Unionsrechts – also die am Zweck orientierte Interpretation – gegen eine rückwirkende Wirkung spricht. Der Zweck der Antidumpingregelungen besteht darin, unlautere Preisunterbietungen durch Drittstaaten auszugleichen, solange eine entsprechende Marktverzerrung besteht. Diese Schutzfunktion wäre ausgehöhlt, wenn Unternehmen durch Umgehungstatbestände auf spätere Aufhebungen hoffen könnten, um sich rückwirkend ihrer Zahlungspflichten zu entziehen. Die Entscheidung folgt so der unionsrechtlichen Systematik und sichert die Effektivität der handelspolitischen Schutzinstrumente.
Dem Vorbringen der Klägerseite, die Aufhebung sei wegen Widerspruchs zum WTO-Recht erfolgt und wirke daher ex tunc, also rückwirkend, trat der Bundesfinanzhof mit Verweis auf die ständige EuGH-Rechtsprechung entgegen. Danach entfalten unionsrechtliche Anpassungsmaßnahmen zur Umsetzung von WTO-Entscheidungen keine rückwirkende Ungültigkeit. Sie dienen einer zukünftigen Rechtsangleichung und nicht der rückwirkenden Korrektur früherer Rechtsakte. Auch das Argument der angeblichen Unvereinbarkeit mit der sogenannten „Völkerrechtsfreundlichkeit“ des deutschen Rechts überzeugte den Bundesfinanzhof nicht, weil die unionsrechtliche Anwendung Vorrang genießt.
Konsequenzen für Unternehmen, Steuerkanzleien und Finanzinstitute
Für kleine und mittelständische Unternehmen ergibt sich aus diesem Urteil eine eindeutige Handlungsleitlinie: Antidumpingzölle, die während des Bestehens einer entsprechenden EU-Verordnung entstanden sind, können auch Jahre später noch nacherhoben werden, selbst wenn die Maßnahme inzwischen aufgehoben wurde. Dies gilt umso mehr, wenn sich – wie im vorliegenden Fall – im Nachhinein herausstellt, dass Ursprungsangaben fehlerhaft oder unvollständig waren. Die Zollschuld entsteht unabhängig davon, ob der Importeur Kenntnis von der falschen Herkunft hatte. Entsprechend bleibt auch eine spätere Festsetzung im Rahmen der verlängerten Festsetzungsfrist möglich, sofern Verdachtsmomente auf eine Hinterziehung bestehen.
Unternehmen mit internationalen Beschaffungsketten, etwa im Maschinenbau, in der Medizintechnik oder im Onlinehandel, sollten deshalb besonders auf die Dokumentation der Ursprungserklärung achten. Für Pflegeeinrichtungen und Krankenhäuser, die medizinische Ausstattungen importieren, gilt Ähnliches. Gerade in sensiblen Bereichen, in denen Lieferketten verkürzt und Produkte aus Drittstaaten bezogen werden, führt das Urteil zu einer erhöhten Compliance-Verantwortung. Das Risiko, dass falsche Warenursprungsnachweise zu finanziellen Nachforderungen führen, bleibt auch Jahre nach der Einfuhr bestehen. Steuerberatende Betriebe und Zollbeauftragte sollten deshalb prüfen, ob interne Prozesse zur Überwachung von Lieferantenerklärungen und Einfuhrbelegen den steuerlichen Anforderungen entsprechen.
Auch für Banken und Finanzinstitutionen, die Importgeschäfte finanzieren oder Avale stellen, ist das Urteil praxisrelevant. Sie sollten sicherstellen, dass bei der Kredit- oder Avalprüfung potenzielle Nachforderungen aus Antidumpingzöllen berücksichtigt werden. Das Risiko solcher Nachforderungen kann zu bilanziellen und liquiditätswirksamen Belastungen führen, insbesondere wenn Zahlungsansprüche gegenüber inzwischen liquidierten Gesellschaften bestehen.
Rechtlich präzisiert der Bundesfinanzhof zudem die Regelung zur Verjährung von Nacherhebungen. Im Falle vorsätzlicher Hinterziehung verlängert sich die Festsetzungsfrist auf zehn Jahre. Damit stärkt der Bundesfinanzhof die Position der Zollverwaltung und erhöht zugleich den Druck auf importierende Unternehmen, ihre Ursprungsdokumentation und Lieferantenkommunikation konsequent rechtskonform zu gestalten. Eine sorgfältige Überprüfung der Lieferkette ist daher nicht nur betriebswirtschaftlich, sondern auch steuerstrafrechtlich geboten.
Rechtssicherheit und Digitalisierung als Zukunftsstrategie
Das Urteil des Bundesfinanzhofs schafft klare Verhältnisse für die Zukunft. Es unterstreicht, dass Unternehmen mit einer langfristigen Rechtssicherheit nur rechnen können, wenn sie die Dokumentations- und Nachweispflichten im Einfuhrprozess ernst nehmen. Zugleich ist das Urteil ein Signal für eine konsequente Digitalisierung der Zoll- und Buchhaltungsprozesse. Moderne digitale Systeme ermöglichen es, Ursprungsnachweise, Lieferkettendaten und Kommunikationsdokumente revisionssicher zu archivieren und automatisiert zu überprüfen. Unternehmen, die diese Technologien aktiv nutzen, minimieren das Risiko zukünftiger Nachforderungen und stärken ihre Compliance-Position gegenüber Behörden.
Gerade für kleine und mittelständische Unternehmen bietet sich hier eine Chance: Prozessoptimierung durch digitale Buchhaltung und automatisierte Zollabwicklung reduziert den Verwaltungsaufwand und senkt langfristig die Kosten. Unsere Kanzlei begleitet Unternehmen auf diesem Weg der Transformation. Wir betreuen Mandanten unterschiedlichster Branchen – vom kleineren Onlinehändler bis zur spezialisierten Pflegeeinrichtung – und unterstützen bei der Digitalisierung und Prozessoptimierung in der Buchhaltung. Die daraus resultierenden Effizienzgewinne und Kosteneinsparungen zeigen, dass moderne Steuer- und Zollgestaltung heute weit über reine Rechtsbefolgung hinausgehen sollte.
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