Die jüngste Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 18. Juni 2025 (2 AZR 96/24 (A)) verleiht dem Grundsatz des Arbeitnehmerschutzes eine neue Kontur. In einer für international tätige Unternehmen bedeutsamen Sache entschied der Zweite Senat, dass der Anspruch auf Annahmeverzugslohn gemäß § 615 Satz 1 BGB im Fall einer unwirksamen Arbeitgeberkündigung nicht durch Rechtswahl im Voraus ausgeschlossen werden darf. Diese Feststellung hat erhebliche Tragweite für Arbeitgeber, die Vertragsbeziehungen über Landesgrenzen hinweg gestalten, etwa im Pflegewesen, in der Luftfahrt oder im wachsenden Onlinehandel.
Annahmeverzugslohn und zwingendes deutsches Recht im internationalen Arbeitsverhältnis
Dem Streit lag ein Arbeitsverhältnis zwischen einem US-amerikanischen Luftfahrtunternehmen und einer in Deutschland stationierten französischen Flugbegleiterin zugrunde. Beide Parteien hatten US-Recht als Vertragsgrundlage gewählt, doch die Beschäftigte führte ihre Tätigkeit von Frankfurt am Main aus. Nachdem das Unternehmen das Arbeitsverhältnis kündigte und die Arbeitnehmerin Annahmeverzugslohn forderte, stellte sich die Frage, ob diese Ansprüche durch die Rechtswahl ausgeschlossen werden konnten.
Das Bundesarbeitsgericht entschied, dass § 615 Satz 1 BGB, der den Anspruch auf Lohnfortzahlung bei Annahmeverzug des Arbeitgebers regelt, in Fällen einer unwirksamen Kündigung zwingend anzuwenden ist. Eine im Voraus getroffene Vereinbarung, diesen Anspruch auszuschließen – etwa durch Wahl einer ausländischen Rechtsordnung –, ist unzulässig. Der Senat sieht hierin eine gesetzesumgehende Gestaltung, die den Zweck des deutschen Kündigungsschutzes vereiteln würde. Damit positioniert sich der Zweite Senat ausdrücklich gegen die bislang vertretene Auffassung des Fünften Senats, nach der § 615 BGB grundsätzlich abdingbar sei.
Die Entscheidung stützt sich auf den Grundsatz, dass zwingendes Arbeitsrecht auch in internationalen Arbeitsverhältnissen zur Anwendung gelangt, wenn der Arbeitnehmer seine Arbeit gewöhnlich in Deutschland verrichtet. Dies gilt insbesondere für Normen, die den Kern des Arbeitnehmerschutzes betreffen, wie die Lohnfortzahlung im Annahmeverzug oder Kündigungsschutzvorschriften nach dem Kündigungsschutzgesetz. Nach Ansicht des Gerichts wäre ein Ausschluss dieser Rechte durch die Vertragsparteien eine missbilligte Umgehung von zwingendem Recht im Sinne des § 134 BGB.
Rechtliche Analyse: Vertragsfreiheit und ihre Grenzen im Arbeitsrecht
Die Entscheidung markiert eine grundsätzliche Klärung im Spannungsfeld zwischen Vertragsfreiheit und zwingendem Arbeitnehmerschutz. Zwar lässt das Bürgerliche Gesetzbuch den Parteien in § 615 BGB grundsätzlich Spielraum, von der gesetzlichen Regelung abzuweichen. Doch dieser Spielraum endet dort, wo der Zweck der Norm – der Schutz des Arbeitnehmers vor willkürlicher Lohnaussetzung – unterlaufen würde. Besonders relevant ist dies bei Konstellationen, in denen Arbeitgeber versuchen, das Risiko einer unwirksamen Kündigung im Voraus auf die Beschäftigten zu verlagern.
Der Senat argumentiert, dass § 615 Satz 1 BGB eine Schlüsselnorm des Kündigungsschutzsystems ist. Sie gewährleistet, dass Arbeitnehmer, deren Kündigung sich nachträglich als unwirksam erweist, nicht ohne Einkommen bleiben. Eine Abbedingung im Voraus würde faktisch den materiellen Gehalt des Kündigungsschutzes aushöhlen und dessen Schutzfunktion entwerten. Zudem verweist das Gericht auf Art. 30 Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch, wonach Bestimmungen des deutschen Arbeitsrechts auch bei grenzüberschreitenden Verträgen Anwendung finden, wenn sie zwingenden Charakter haben und der Arbeitnehmer seine Tätigkeit gewöhnlich in Deutschland ausübt.
Die Entscheidung beleuchtet damit eine zentrale Schnittstelle zwischen nationalem und internationalem Arbeitsrecht. Für global agierende Unternehmen, insbesondere solche mit ausländischen Vertragsstatuten, verdeutlicht sie, dass sie nicht allein über die Rechtswahl nationale Schutzvorschriften umgehen können. Diese Auslegung stärkt die Rechtssicherheit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die in internationalen Strukturen tätig sind, und verhindert, dass durch formale Vertragsgestaltungen grundlegende arbeitsrechtliche Schutzrechte verloren gehen.
Auswirkungen auf Unternehmen, Dienstleister und internationale Betriebe
Die Entscheidung betrifft weit mehr als den Einzelfall der Luftfahrtbranche. Für internationale Konzerne mit deutschen Betriebsstätten, aber auch für kleine und mittelständische Unternehmen, insbesondere im Pflegebereich oder im E-Commerce, ergeben sich daraus klare Handlungsvorgaben. Arbeitsverträge mit Rechtswahlklauseln zugunsten ausländischen Rechts sollten sorgfältig überprüft werden. Wo Personal überwiegend in Deutschland tätig ist, kann der Schutzbereich zwingender Normen wie § 615 Satz 1 BGB nicht wirksam ausgeschlossen werden. Arbeitgeber riskieren im Streitfall erhebliche Nachzahlungen von Lohn und Sozialversicherungsbeiträgen, wenn sich eine Kündigung als unwirksam erweist oder ein Annahmeverzug festgestellt wird.
Gerade kleinere Unternehmen und Pflegeeinrichtungen, die im internationalen Personalmarkt agieren, sollten beachten, dass sich die Anwendbarkeit deutschen Arbeitsrechts nicht allein aus der vertraglichen Wahl des Auslandsrechts vermeiden lässt. Entscheidend bleibt, wo die Arbeitsleistung tatsächlich erbracht wird. Für Onlinehändler oder IT-Dienstleister mit Remote-Mitarbeitern kann dies bedeuten, dass selbst bei digitaler Tätigkeit ausländischen Rechts deutsche Regelungen zum Arbeitsentgelt greifen, wenn die Organisation faktisch in Deutschland angesiedelt ist.
Im praktischen Ergebnis stärkt die Entscheidung die Position von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in globalen Beschäftigungsstrukturen. Unternehmen sollten ihre Personalprozesse dahingehend anpassen, dass sie den zwingenden Vorschriften des deutschen Arbeitsrechts Rechnung tragen, sobald Mitarbeiter von einem deutschen Standort aus operieren. Steuerberatende und Personalverantwortliche müssen im Rahmen der Lohnabrechnung und Vertragsprüfung künftig verstärkt darauf achten, dass Rechtswahlklauseln nicht gegen zwingendes deutsches Entgeltrecht verstoßen.
Fazit: Klare Grenzen für internationale Rechtswahl im Arbeitsvertrag
Das Bundesarbeitsgericht zieht mit dieser Entscheidung eine klare Linie: Die Lohnfortzahlungspflicht des Arbeitgebers im Annahmeverzug ist bei unwirksamer Kündigung zwingend. Eine vertragliche Gestaltung, die diesen Anspruch bereits im Voraus ausschließt, ist unwirksam. Für international vernetzte Unternehmen bedeutet dies, dass die Rechtswahl zugunsten ausländischen Rechts zwar möglich bleibt, sie jedoch nicht dazu führen darf, zentrale deutsche Schutzstandards zu umgehen.
Die Entscheidung betont außerdem die Bedeutung einer sachgerechten Risikoverteilung im Arbeitsverhältnis. Arbeitgeber bleiben verpflichtet, auch im Falle rechtlich fehlerhafter Kündigungen für Lohnfortzahlungen einzustehen. Für Unternehmen empfiehlt sich daher eine umfassende Überprüfung bestehender Vertragswerke und die Anpassung interner HR- und Compliance-Prozesse.
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